Weg-Wort vom 19. Januar 2021
«Ich sitze in dem kleinen Boot. Und die Wellen schaukeln mich. Und es ist weit bis zum Land. Und das Boot ist klein, ein dünner Rumpf zwischen mir und dem Wasser, zwischen mir und dieser Tiefe.»
Im Theaterstück «Sommertag» von Jon Fosse beschreibt der junge Mann Asle mit diesen Worten seiner Partnerin, warum er immer wieder ganz allein mit einem kleinen Boot auf den Fjord hinausfährt und dort stundenlang bleibt.
Welch wunderbares Bild für die menschliche Existenz! Wir sind Individuen und erleben uns im Unterschied zu anderen und zu der Umgebung, in der wir existieren. Wir unterscheiden uns von Mitmenschen, Tieren, der Welt der Objekte. Aber irgendwann realisieren wir, dass dieses Dasein als Individuum nichts Selbstverständliches ist: Es hat uns lange nicht gegeben und es wird uns eines Tages nicht mehr geben. Und der Unterschied zwischen Sein und Nichtsein ist wie «…ein dünner Rumpf zwischen mir und dem Wasser, zwischen mir und dieser Tiefe.» Leben ist wie das Sitzen in einem kleinen Boot in der Weite des Wassers.
Es ist eine unserer Aufgaben im Leben, damit einen Umgang zu finden: Dass wir Ausgesetzte und Gefährdete sind, und es nichts als eine dünne Schicht zwischen Sein und Nichtsein gibt.
Die mystischen Traditionen vieler Religionen kennen die Vorstellung des Eingehens ins Ganze, der Auflösung der Ich-Grenzen und des All-Eins-Werdens.
In Fosses Stück erlebt die Partnerin von Asle solch einen Moment, als sie zu realisieren beginnt, dass er nie mehr von seiner Fahrt auf den Fjord zurückkommen wird: «Jetzt war ich nicht mehr unruhig. Jetzt war ich eine grosse leere Ruhe. Jetzt war ich eine Dunkelheit, eine schwarze Dunkelheit. Jetzt war ich nichts mehr. Und zugleich spürte ich, dass, ja, dass ich irgendwie leuchtete. Tief in mir drin, in der leeren Dunkelheit, spürte ich, dass die leere Dunkelheit leuchtete.»